Wir nehmen viel weniger Bakterien zu uns als noch vor einem Jahrhundert. Dies scheint eine der Hauptursachen für die derzeitige Epidemie immunbedingter Krankheiten zu sein: Asthma, Allergien und Autoimmunerkrankungen, aber auch andere Wohlstandskrankheiten wie Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes sind verdächtig. Als Gegenstück oder Ausgleich ist eine wachsende Nachfrage nach lakto-fermentierten Produkten entstanden, die es uns ermöglichen, unsere tägliche Dosis an Bakterien auf kontrollierte Weise zu erhalten. Strachans Aussage ‚Dreck reinigt den Magen‘ (Eng.: a little dirt does not hurt) beschreibt dieses wachsende Bewusstsein, dass wir Bakterien brauchen, um gesund zu bleiben. In den Kühlregalen der Supermärkte findet man heute neben dem traditionellen Joghurt auch Kombucha und Kefir.
Was funktioniert also, wenn Sie roh-fermentierte Produkte wie Rohmilchkefir, Kombucha, Bauernkäse oder Sauerkraut zu einem täglichen Bestandteil Ihrer Ernährung machen? Wie wirken fermentierte Produkte auf Ihre Physiologie? Sind es die Bakterien an sich, ihr spezifischer probiotischer Hintergrund (Hsu et al., 2018)? Sind es ihre Stoffwechselprodukte, die beim Säuerungsprozess entstehen, wie die veränderten Proteine, die in Peptide umgewandelt werden (Ebner et al., 2015 und 2016)? Beeinflusst sie direkt oder indirekt unsere Darmflora und Darmfunktionen? Natürlich ist es schwierig, eine komplexe Situation zu untersuchen, weil man mit allen möglichen Wechselwirkungen und potenziell komplementären und verstärkenden Effekten umgehen muss. Schließlich ist ein Lebensmittel eine Matrix aus vielen Produkten, Stoffen, Eigenschaften und Wirkungen.
Kefir
Fast alle Kefir-Forschungen wurden mit Kefir aus Kuhmilch durchgeführt, der oft ohne Milchfett und aus pasteurisierter Milch hergestellt wird. Fett aus Molkenmilch (einfach und mehrfach ungesättigtes Fett) und auch die Rohmilch selbst können zusätzliche Wirkungen entfalten. Kefir besteht aus einer reichhaltigen Bakteriensuppe. Der meiste Kefir wird aus einer Kultur hergestellt, die eine Vielfalt von Bakterien und Hefen enthält. Gefriergetrocknete Kulturen wie die von Hansen enthalten nur etwa 4 Arten von Bakterien und Hefen. In Amerika werden Hefen nicht verwendet, weil sie auch ein wenig Alkohol produzieren, was nicht erlaubt ist. Das Vorhandensein von Hefen erkennt man vor allem daran, dass der Kefir etwas stechender schmeckt und sich die Flasche ausbeult, wenn man sie zu lange außerhalb des Kühlschranks aufbewahrt. Wie bei Erfrischungsgetränken entsteht Kohlendioxid. Noch reichhaltiger in der Zusammensetzung ist Kefir, der aus den sogenannten ‚Knollen‘ oder umgangssprachlich der Kefirpflanze hergestellt wird. Hier wurden bis zu 50 verschiedene Arten von Bakterien, Pilzen und Hefen in Kefir aus Knollen gefunden (Walsh et al., 2016).
Menge an lebenden Bakterien
Das Milchgetränk Kefir enthält normalerweise eine hohe Dosis an lebenden Bakterien. Pro ml Kefir nehmen Sie 109 lebende Bakterien auf. Das sind 1 Milliarde Bakterien, auch ausgedrückt als 9 log10 Bakterien. Untersuchungen zeigen, dass auch nach 100 Tagen Kefir-Lagerung noch die gleichen hohen Dosen lebender, kultivierbarer Bakterien vorhanden sind (Bengoa et al., 2019). Um 200 Tage herum reduziert sich die Zahl (6 log 10 = 1 Million). Dies betrifft das Bakterium Lactobacillus paracaseï. Obwohl die Kefirkultur viel bakterienreicher ist und wir nicht wissen, wie sich die Bakterien zueinander verhalten, scheint es auch nach einer Lagerzeit von bis zu 3 Wochen (UVD oder Mindesthaltbarkeitsdatum) keine Frage zu sein, ob man noch genügend lebende Bakterien bekommt. Mit dem Verzehr von etwa 100 ml Kefir erreicht man problemlos den Tagesbedarf an lebenden Bakterien. Viele Bakterien können auch durch den sauren Magen in den Magen-Darm-Trakt gelangen und dort eine Veränderung der Zusammensetzung bewirken. Lustigerweise ist die Erfahrung bei Menschen mit Ekzembeschwerden z.B. auch, dass, wenn man den Kefirkonsum einstellt, auch die Beschwerden zurückkehren. Für eine anhaltende Wirkung ist eine tägliche Dosis wichtig. Das Vorhandensein bestimmter Bakterien oder Bakterienstämme mit nachgewiesener Wirkung auf den Stoffwechsel entscheidet darüber, ob die Bezeichnung „Probiotika“ für ein fermentiertes Produkt verwendet werden kann. Bei Kefir aus Knollen weiß man das oft nicht.
Bakterielle Stoffwechselprodukte
Ein 2e Faktor bei fermentiertem Kefir sind die Umwandlungsprodukte. Innerhalb von 24 Stunden sinkt der pH-Wert (Säuregehalt) von etwa 6,7 (in Milch) auf 4,0 (in Kefir). Die Laktose (Milchzucker) wird von den verschiedenen Bakterien fast vollständig in Milchsäure umgewandelt. Die schnelle pH-Senkung sorgt dafür, dass das Produkt bakteriell sicher ist und alle Arten von unerwünschten zoonotischen Bakterien, die Krankheiten verursachen können, nicht mehr wachsen können. Es wird nicht nur Milchzucker verbraucht, sondern auch verschiedene Proteine in der Milch werden abgebaut. Beim Eiweißabbau entsteht eine Vielzahl von großen und kleinen Bruchstücken, die so genannten Peptide. Manche sind nur 3 Aminosäuren groß. Beim weiteren Abbau und auch bei unserer Verdauung werden Proteine und Peptide bis auf die unterste Ebene, die der Aminosäuren, heruntergebrochen. In der Gruppe der Peptide werden viele gebildet, die sich auf zahlreiche Lebensprozesse auswirken, wie z.B.:
- Regulierung des Immunsystems
- Blutdrucksenkend
- Erhaltung der Darmschleimhaut
- Stimmungsregulierung
- Wundheilung
- Abtötung von Bakterien und Viren
In den letzten Jahren haben sich mehrere Forschergruppen mit den Abbauprodukten von Milchproteinen befasst. Viele Arbeiten finden z.B. an der Friedrich-Alexander Universität in Erlangen statt (Arbeitsgruppe Prof. Monika Pischetsrieder). Ebner et al. (2015) zeigen z.B., dass sie mehr als 250 Peptide in Kefir identifizieren können, die aus dem beta-Kasein, alpha-s1 und -s2-Kasein und dem kappa-Kasein gebildet werden. Je nach verwendeter Kultur oder Kefirpflanze gibt es Unterschiede bei den Peptiden. Die Peptide sind ein wichtiger Beitrag zu dem Beinamen, dass Kefir ein ‚funktionelles Lebensmittel‘ ist, ein Lebensmittel mit einer physiologischen Wirkung. An anderer Stelle wurde auch gezeigt, wie insbesondere Milchsäurebakterien und auch die blauen Pilze zu einem stark erhöhten Vitamin-K2-Gehalt in fermentierten Produkten beitragen. Solche Stoffwechselprodukte sind auch für das Konzept der funktionellen Lebensmittel wichtig.
Die meisten Peptide sind ACE-Hemmer (ACE = Angiotensin-converting enzyme), die den Blutdruck regulieren. Außerdem gibt es einige Peptide, die das Immunsystem beeinflussen, und es gibt auch solche, die als Antioxidantien wirken. In einer Studie mit Ratten mit erhöhtem Blutdruck führte der tägliche Verzehr von Kefir zu einer Verbesserung der Blutdruckprobleme und einer Verringerung der Herzfrequenz. Auch das Risiko für ein vergrößertes Herz aufgrund von Bluthochdruck nahm ab (Silva-Cutini et al., 2019). Unterstützende Tierstudien bestätigen den Rückgang möglicher Herzprobleme durch den Verzehr von Kefir (Amorim et al. (2019). Der meiste Kefir wird aus pasteurisierter Milch hergestellt. In einer weiteren Studie von Ebner et al. (2016) zeigt sich, dass es auch Unterschiede bei den Peptiden in pasteurisierter und sterilisierter Milch gibt. Beide Erhitzungsstufen weisen ein anderes Peptidprofil auf als Rohmilch.
Geruch und Geschmack
Walsh et al. (2016) analysierten die flüchtigen Bestandteile in verschiedenen Kefirs, die aus Kefirknollen hergestellt werden. Ester, Ketone, kurzkettige Fettsäuren und verschiedene Alkohole tragen zum Geschmacksprofil der einzelnen Kefirtypen bei. Als Nebenprodukt der Zerstäubung von Fetten, Proteinen und Milchzuckern entstehen Gerüche, die als fruchtig, malzig, buttrig und dergleichen beschrieben werden können. Mehrere dieser Geruchskomponenten stehen in engem Zusammenhang mit bestimmten Bakterien in der Kefirkultur.
Literatur
- Amorim, F. G., Coitinho, L. B., Dias, A. T., Friques, A. G. F., Monteiro, B. L., de Rezende, L. C. D., … & Quinton, L. (2019). Identification of new bioactive peptides from Kefir milk through proteopeptidomics: Bioprospection of antihypertensive molecules. Food chemistry, 282, 109-119.
- Bengoa, A. A., Iraporda, C., Acurcio, L. B., de Cicco Sandes, S. H., Costa, K., Guimarães, G. M., … & Abraham, A. G. (2019). Physicochemical, immunomodulatory and safety aspects of milks fermented with Lactobacillus paracasei isolated from kefir. Food Research International, 123, 48-55.
- Ebner, J., Arslan, A. A., Fedorova, M., Hoffmann, R., Küçükçetin, A., & Pischetsrieder, M. (2015). Peptide profiling of bovine kefir reveals 236 unique peptides released from caseins during its production by starter culture or kefir grains. Journal of proteomics, 117, 41-57.
- Ebner, J., Baum, F., & Pischetsrieder, M. (2016). Identification of sixteen peptides reflecting heat and/or storage induced processes by profiling of commercial milk samples. Journal of proteomics, 147, 66-75.
- Hsu, Y. J., Huang, W. C., Lin, J. S., Chen, Y. M., Ho, S. T., Huang, C. C., & Tung, Y. T. (2018). Kefir supplementation modifies gut microbiota composition, reduces physical fatigue, and improves exercise performance in mice. Nutrients, 10(7), 862.
- Silva-Cutini, M. A., Almeida, S. A., Nascimento, A. M., Abreu, G. R., Bissoli, N. S., Lenz, D., … & Andrade, T. U. (2019). Long-term treatment with kefir probiotics ameliorates cardiac function in spontaneously hypertensive rats. The Journal of nutritional biochemistry, 66, 79-85.
- Walsh, A. M., Crispie, F., Kilcawley, K., O’Sullivan, O., O’Sullivan, M. G., Claesson, M. J., & Cotter, P. D. (2016). Microbial succession and flavor production in the fermented dairy beverage kefir. Msystems, 1(5), 10-1128.